„Vertilgen wird sie der Herr unser Gott“

 

Über Gewalt in der Bibel am Beispiel des Psalms 94

1. Der gewalttätige Gott

Bibellesern – nicht erst unserer Zeit – ist der gewalttätige Gott der Bibel, sind die vielen kriegerischen und blutrünstigen Texte der Bibel immer wieder aufgefallen. Der Theologe Raymund Schwager gibt an, er habe 600 Stellen in der Bibel gefunden, die von der Gewalt unter Menschen sprechen und er sei auf ca. 1000 Texte gestoßen, die von göttlicher Gewalt berichten. Haben wir es also mit einem gewalttätigen Gott, mit einer in sich gewalttätigen Bibel zu tun? Wie ist das Verhältnis der Bibel zur Gewalt?
Gerade heute wird das Verhältnis der Religionen zur Gewalt in besonderem Maße diskutiert. Schnell zeigt man mit dem Finger auf die anderen, derzeit vor allem auf die Muslime. Angesichts einer Welt- und Kirchengeschichte in unseren christlich geprägten Breiten, die eben auch eine lange Geschichte von Gewalt und Unterdrückung gewesen ist, sollte vielleicht vor dem Blick auf die anderen der Blick auf die eigene Tradition erfolgen.
Von den vielen ´Gewalttexten´ der Bibel habe ich einen aussuchen müssen; keine leichte Auswahl bei dem, wie oben deutlich geworden, großen Angebot. Meine Wahl ist auf den Psalm 94 gefallen, einen der vielen ,unbekannten Psalmen‘; keine sprichwörtliche Redewendung leitet sich von ihm ab, das Neue Testament kennt ihn nur beiläufig. Aber er ist ein gutes Beispiel für eine ganze Gattung von Fluchpsalmen. Und außerdem ist er mir – vor allem durch die grandiose Orgelsonate von Julius Reubke – zu einem sehr vertrauten Text geworden:


Psalm 94


1    Gott der Rache, Herr, Gott der Rache, strahle hervor!
2    Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt den Hochmütigen ihr Tun!

3    Bis wann werden die Gottlosen, Herr,
        bis wann werden die Gottlosen frohlocken,
4    übersprudeln, Freches reden,
        werden sich rühmen alle Übeltäter?
5    Dein Volk, Herr, zertreten sie,
        dein Eigentum bedrücken sie.
6    Die Witwe und den Fremden bringen sie um,
        die Waisen ermorden sie.
7    Sie sagen: Jah sieht es nicht!
        Der Gott Jakobs merkt es nicht

8    Habt Einsicht, ihr Unvernünftigen unter dem Volk!
        Ihr Toren, wann werdet ihr verständig werden?
9    Der das Ohr gestaltet hat, sollte der nicht hören?
        Der das Auge gebildet hat, sollte der nicht sehen?
10    Der die Nationen unterweist, sollte der nicht zurechtweisen?
        er, der Erkenntnis lehrt den Menschen?
11    Der Herr kennt die Gedanken des Menschen,
        daß sie ein Hauch sind.

12    Glücklich der Mann, den du erziehst, Jah,
        den du belehrst aus deinem Gesetz,
13    um ihm Ruhe zu geben vor den bösen Tagen,
        bis dem Gottlosen die Grube gegraben wird!
14    Denn der Herr wird sein Volk nicht verstoßen,
        er wird sein Eigentum nicht verlassen.
15    Denn zur Gerechtigkeit wird zurückkehren das Recht
        und hinter ihm her alle, die von Herzen aufrichtig sind.

16    Wer wird für mich aufstehen gegen die Übeltäter?
        Wer wird für mich auftreten gegen die, die Böses tun?
17    Wäre der Herr mir nicht eine Hilfe gewesen,
        so hätte wenig gefehlt, und meine Seele hätte im Schweigen gelegen.
18    Wenn ich sagte: Mein Fuß wankt!,
        so unterstützte mich deine Gnade, Herr.
19    Als viele unruhige Gedanken in mir waren,
        liebkosten deine Tröstungen meine Seele.
20    Sollte mit dir verbündet sein der Thron des Verderbens,
        der Unheil schafft gegen die Ordnung?
21    Sie rotten sich gegen die Seele des Gerechten zusammen,
        und unschuldiges Blut sprechen sie schuldig.

22    Doch der Herr wurde mir zur Burg,
        mein Gott zum Fels meiner Zuflucht.
23    Er läßt ihre Ungerechtigkeit auf sie zurückfallen,
        und in ihrer Bosheit wird er sie vertilgen.
        Vertilgen wird sie der Herr, unser Gott.


Ganz ohne Umschweife bittet der Psalmist um die Vernichtung seiner Gegner. Wir würden wohl von sehr ´unchristlichen Gedanken´ sprechen. Zweifellos sind das sperrige Vorstellungen, die sich so recht nicht mit dem „Liebet eure Feinde“ (Mt 5, 44) der Bergpredigt vertragen wollen.


2. Der Hintergrund: Das Weltbild des alten Orient

Nun sollte man bei der Betrachtung der Bibel nicht vergessen, daß die Bibel ein Buch ist, das viele Jahrhunderte vor unserer Zeit verfaßt worden ist. Wer die Bibel heute verstehen möchte, der kommt nicht umhin, sich mit den Gedanken und Vorstellungen der Menschen zu beschäftigen, in deren Zeit die biblischen Verfasser gelebt haben.


Schauen wir uns das „Weltbild“ des Alten Ägypten an, also eine Darstellung aus dem direkten Umfeld des Alten Israel. Hier wird deutlich, daß die Welt für die damaligen Menschen eine einzige göttliche Wirklichkeit war: Erde und Himmel, Sonne und Mond, alles ist in göttlichen Personen gedacht. Die Erde ist hier durch den liegenden Erdgott Geb dargestellt, der Himmel durch die Himmelsgöttin Nut. Beide werden vom Luftgott Schu getrennt.
Über dieses Himmelsgewölbe fährt am Tag die Sonnenbarke, ein Boot, das die Sonne in Gestalt des Sonnengottes Re trägt. Es wird am Abend (rechts) von Osiris, dem Gott der Unterwelt, der Totenwelt, in Empfang genommen. So erscheint es dem Menschen: Die Sonne geht auf, ´fährt´ über den Horizont und geht am Abend unter.
In der Sonnenbarke sitzt direkt vor dem Sonnengott die Göttin Maat, die Verkörperung der Weltordnung. Und das ist ein ganz entscheidender Gedanke: Das ständige, verlässliche Auf- und Untergehen der Sonne ist ein Zeichen dafür, daß die Welt in Ordnung, also in ihrer guten funktionierenden Ordnung, ist. Die Welt braucht die Sonne, ihr Licht und ihre Wärme – die Sonne hält die Erde am Leben.
Nun darf das Ägyptische Weltbild keineswegs direkt auf das Weltbild der Bibel übertragen werden. Aber das biblische Weltbild ist dem Ägyptischen näher, als unserem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild. In den vergangenen Jahrzehnten sind diese Vergleiche immer wieder neu, mit geradezu verblüffenden Ergebnissen gemacht worden. Nur ein Beispiel, in Psalm 85, 14 heißt es: „Gerechtigkeit wird vor ihm hergehen“ – und diese ´Gerechtigkeit´ ist genau das, was im ägyptischen Denken als Maat erscheint, die gute, gerechte Ordnung der Welt. Wie die Maat in der Sonnenbarke vor dem Sonnengott Re sitzt, so geht die Gerechtigkeit im Psalm vor dem Gott Israels einher.


3. Die Gewalt des Menschen bedroht die Ordnung der Welt

Aus dem Zusammenhang von guter Ordnung und dem Bestand der Welt folgt aber nun ein – uns geradezu unheimlich anmutender – Mechanismus: Wer die gute Ordnung der Welt stört, der gefährdet auch den Bestand der Welt.
Die Ordnung der Welt zeigt sich im Großen, im verläßlichen Lauf der Sonne, sie zeigt sich aber auch im Kleinen, in den Gott-gegebenen Gesetzen, im göttlichen Recht, das den Bestand der Gesellschaften sichert. Das archaische Welt-Verständnis versteht das Recht, die Rechtsordnung, als einen Aspekt der großen Weltordnung. Die geschriebenen Gesetze sind ein Aspekt der Maat. So heißt es in einem altägyptischen Text: „Ich war einer, der die Maat liebte und die Sünde haßte.“
Im archaische Verständnis war die Welt eine gefährdete Welt. Sie war durch Schöpfung aus dem Chaos ausgesondert worden, aber das Chaos blieb für die Welt eine ständige Bedrohung. Deshalb liegt in jedem Verstoß gegen die Ordnung der Gesetze eine Gefahr für den Bestand der Welt: Ein Gesetzesverstoß ist ein Verstoß gegen die Ordnung, die den Bestand der Welt sichert. Auf diesem Hintergrund erscheinen die uns häufig so drastisch vorkommenden Strafen der alten Welt vielleicht verständlich.
In der Bibel zeigt sich diese Bedrohung in der Sintflut-Erzählung:


11Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat. 12Gott sah sich die Erde an: Sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben. (Gen 6, 11f.)

Die verdorbene Erde ist die Erde, auf der sich niemand an Gottes Gesetze hält, die gute Ordnung also mißachtet. Nach dieser Bestandsaufnahme schickt Gott die Flut. Der Verstoß gegen die gute Ordnung ist lebensgefährlich – nicht allein für den einzelnen, für den Täter, sondern für die ganze Welt.


4. Der 94. Psalm auf diesem Hintergrund


Wenn wir uns nun mit diesem Hintergund den 94. Psalm erneut betrachten, dann werden vielleicht einige Zusammenhänge ganz anders deutlich.


    1    Gott der Rache, Herr, Gott der Rache, strahle hervor!
    2    Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt den Hochmütigen ihr Tun!


Gott wird zur Eröffnung angerufen, zum Gericht zu erscheinen, einen Gerichtstag einzuberufen. Und schon die Wendung „strahle hervor“ zeigt die oben genannte Nähe von Sonne und rechter Ordnung. Der zum Gericht erscheinende Gott strahlt auf, wie die aufgehende Sonne. Der Gott der „Rache“ ist nicht etwa ein blindwütiger Rächer, der in Wildwest-Manier wahllos zuschlägt. Er soll ´vergelten´, er soll ahnden, er soll somit seine gerechte Ordnung wieder aufrichten. Er soll das Gleichgewicht wieder herstellen, das durch die Taten der ´Hochmütigen´ gestört wurde. Und hier wird noch etwas deutlich: Der Beter des Psalms zählt sich nicht zu den Hochmütigen. Er ruft Gott zum Gericht gegen die Mächtigen, die Reichen, zum Gericht gegen die, die sich völlig von Gott losgesagt haben.


    3    Bis wann werden die Gottlosen, Herr,
            bis wann werden die Gottlosen frohlocken,
    4    übersprudeln, Freches reden,
            werden sich rühmen alle Übeltäter?


Nun werden die Hochmütigen näher beschrieben. Sie fühlen sich sicher. Sie rühmen sich ihrer Taten.


    5    Dein Volk, Herr, zertreten sie,
            dein Eigentum bedrücken sie.
    6    Die Witwe und den Fremden bringen sie um,
            die Waisen ermorden sie.


Diese Taten sind unerhörte Verstöße gegen die gute Ordnung Gottes. Das Volk, das von den Hochmütigen bedroht und ´zertreten´ wird, ist ausdrücklich als Gottes Volk gekennzeichnet. Geradezu ein Trick: Gott wird als Richter angerufen, dieser Richter ist gleichzeitig der Eigentümer des unterdrückten Volkes – in moderner juristischer Ausdrucksweise: Gott ist gleichzeitig Richter und Vertreter der Nebenklage. Witwen, Waisen und Fremde – das sind die Armen, die besonders Hilflosen im Volk Israel. Sie stehen unter dem besonderen Schutz Gottes. Im Buch Deuteronomium heißt es deshalb ausdrücklich:

Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, daß er ihnen Speise und Kleider gibt. (Dtn 10, 17f.)

Ganz genau gegenteilig verhalten sich die Fürsten in Israel, so klagt jedenfalls Gott selbst beim Propheten Jesaja an:

Deine Fürsten sind Abtrünnige und Diebesgesellen, sie nehmen alle gern Geschenke an und trachten nach Gaben. Den Waisen schaffen sie nicht Recht, und der Witwen Sache kommt nicht vor sie. (Jes 1, 23)

Sie also sind die Angeklagten, die Reichen und Mächtigen im eigenen Volk. Der Beter selbst gehört auf die andere Seite, auf die Seite der Machtlosen. Er kann seine Sache nicht gegen die Mächtigen vortragen. Deshalb ruft er Gott zum Richter an.


    7    Sie sagen: Jah sieht es nicht!
        Der Gott Jakobs merkt es nicht!


Nun wird erklärt, was die ´frechen Reden´ der Hochmütigen auszeichnet: Sie tun Unrecht und leugnen die Anwesenheit Gottes. Gott ist für sie schlicht nicht vorhanden. Er ist blind und bemerkt nicht das Leid der Unterdrückten.


    8    Habt Einsicht, ihr Unvernünftigen unter dem Volk!
            Ihr Toren, wann werdet ihr verständig werden?
    9    Der das Ohr gestaltet hat, sollte der nicht hören?
            Der das Auge gebildet hat, sollte der nicht sehen?
    10    Der die Nationen unterweist, sollte der nicht zurechtweisen?
            er, der Erkenntnis lehrt den Menschen?
    11    Der Herr kennt die Gedanken des Menschen,
            daß sie ein Hauch sind.


Ausführlich und mit mächtigen Worten mahnt der Beter des Psalms nun die Hochmütigen. Gott ist der mächtige Schöpfer. Und ganz selbstverständlich sieht und hört der Schöpfer von Auge und Ohr. Gott ist aber nicht nur Schöpfer, er ist auch allwissend, er kennt die Gedanken der Menschen. Und vor allem ist Gott eines: überlegen. Die Gedanken des Menschen sind ein ´Hauch´, sie sind über alles vergänglich (wie im Buch Kohelt eindrucksvoll ausgeführt werden wird). Gott dagegen ist es, der mit seiner Weisheit die Nationen unterweist. Der Hochmut der angeblich Mächtigen im Volk ist Dummheit, es sind gerade ihre frechen Reden, die ein vergänglicher ´Hauch´ sind, verglichen mit Gottes Allwissen.


    12    Glücklich der Mann, den du erziehst, Jah,
            den du belehrst aus deinem Gesetz,
    13    um ihm Ruhe zu geben vor den bösen Tagen,
            bis dem Gottlosen die Grube gegraben wird!


Nun zeichnet der Beter des Psalms ein Gegenbild – es wird sich zeigen, daß er ein ´Selbstportrait´ zeichnet. Das genaue Gegenteil der Hochmütigen ist der Mensch der sich in die erzieherische Obhut Gottes begibt, der sich von Gott belehren läßt. Das Gesetz, von dem hier gesprochen wird, ist die allgemeine gute Ordnung, es geht hier nicht um einzelne und kleinliche Gebote oder Verbote. Glücklich ist der Mensch, der Einsicht gewinnt in die gute Ordnung der Welt nach Gottes Willen. In dieser guten Ordnung ist es der Gerechte, der gerettet wird, der Hochmütige aber geht in die Grube, stirbt. Wer auf diese Ordnung fest vertraut, dem ist ´Ruhe vor den bösen Tagen´ gegeben – was schlicht heißt: der kann auch in unruhigen Zeiten von Verfolgung und Unterdrückung ausharren.


    14    Denn der Herr wird sein Volk nicht verstoßen,
            er wird sein Eigentum nicht verlassen.


Es ist das sichere Wissen, daß Gott und sein Volk – ganz besonders aber Gott und die Waisen, Witwen und Fremden! – unzertrennlich sind.


    15    Denn zur Gerechtigkeit wird zurückkehren das Recht
            und hinter ihm her alle, die von Herzen aufrichtig sind.


Nun wird deutlich, wie gefährlich die Situation ist: Recht und Gerechtigkeit haben sich voneinander getrennt. Die Hochmütigen haben das Recht gebeugt, gegen die Unterdrückten im Volk. Das Recht ist nicht mehr ´in Ordnung´. Die gute Ordnung der Welt ist tief erschüttert worden. Der Beter weiß aber: Dieser Zustand wird ein Ende haben. So, wie der Herr sein Volk nicht verstoßen wird, so wird das Recht wieder Bestandteil der göttlichen Weltordnung werden. Und ´hinter ihm alle, die von Herzen aufrichtig sind´ – wieder drängt sich das Bild der Maat auf, die ´vorn sitzt´ im Boot. Wer ´von Herzen aufrichtig ist´, der gehört zum Gefolge der guten Ordnung der Welt.


    16    Wer wird für mich aufstehen gegen die Übeltäter?
            Wer wird für mich auftreten gegen die, die Böses tun?


Der Beter des Psalms macht seine Position klar: Er gehört nicht zu den Mächtigen. Er gehört zu denen, die sich nicht gegen die Unterdrückung wehren können, zu den Machtlosen. Er hofft nicht auf einen menschlichen Anwalt im Gericht.


    17    Wäre der Herr mir nicht eine Hilfe gewesen,
            so hätte wenig gefehlt, und meine Seele hätte im Schweigen gelegen.


Gott selbst verdankt der Beter sein Leben. Ohne die Hilfe Gottes wäre dem Beter genau das passiert, was er am Ende des Psalm den Hochmütigen an den Hals wünscht: Der Tod. Das ist das ´Schweigen´, die Unterwelt, der Platz, an dem Stille herrscht, der Ort, an dem Gott nicht gelobt wird (Ps 115, 17: „Die Toten werden Jah nicht loben, noch alle, die zum Schweigen hinabgehen.“)


    18    Wenn ich sagte: Mein Fuß wankt!,
            so unterstützte mich deine Gnade, Herr.
    19    Als viele unruhige Gedanken in mir waren,
            liebkosten deine Tröstungen meine Seele.


Mit wunderschönen Worten beschreibt der Beter nun die Unterstützung, die Gott ihm in seiner bedrohten Lage zukommen ließ. Die ´Tröstungen´ sind Einsichten in die gute Ordnung der Welt, die schon vorher ´Ruhe vor den bösen Tagen´ gegeben hatten (V. 13).


    20    Sollte mit dir verbündet sein der Thron des Verderbens,
            der Unheil schafft gegen die Ordnung?


Der ´Thron des Verderbens´ ist der Stuhl des ungerechten, des parteiischen, Richters. Der Beter ist sich sicher, daß Gott nicht auf der Seite der parteiischen – bestochenen – Richter stehen kann. Denn diese Richter schaffen Unheil, sie sprechen Urteile, die der guten Ordnung der Welt widersprechen. Gerechtigkeit und Recht – das hatte der Beter schon vorher bemerkt – sind auseinander gefallen. Und diese Situation ist lebensgefährlich. Einmal für die Armen und Machtlosen, das wird der Beter im Folgenden schildern, aber auch für das ganze Volk. Hier droht das Chaos in die gute und geordnete Welt einzubrechen.


    21    Sie rotten sich gegen die Seele des Gerechten zusammen,
            und unschuldiges Blut sprechen sie schuldig.


Hier wird das ganze Ausmaß der Bedrohung deutlich. Die Ordnung ist zutiefst erschüttert: Der Gerechte, der sich ganz in die gute Ordnung Gottes fügt, gerade der muß um sein Leben fürchten.


    22    Doch der Herr wurde mir zur Burg,
            mein Gott zum Fels meiner Zuflucht.


Dieser Satz atmet eine gewisse Verzweiflung. Dem Beter bleibt nur Gott. Er ist völlig hilflos gegenüber dem Agieren der Menschen. ´Burg´ und ´Fels´ sind zwar starke Worte, im Rückgriff auf die vorherigen Psalmverse wird aber deutlich, daß Burg und Felsen gleichzusetzen sind mit den ´Tröstungen´ des Verses 19. Die tatsächliche Rettung des Beters steht noch aus – er lebt noch in Machtlosigkeit, Hilflosigkeit und Angst. Und es ist gerade diese Angst, die den Beter zum Schluß in einen Fluch ausbrechen lassen wird:


    23    Er läßt ihre Ungerechtigkeit auf sie zurückfallen,
            und in ihrer Bosheit wird er sie vertilgen.
            Vertilgen wird sie der Herr, unser Gott.


In der guten Ordnung der Welt wird die Ungerechtigkeit nicht belohnt. In der guten Ordnung wird dem, der Böses tut auch Böses widerfahren.
Aber: Der Beter, in all seiner Hilflosigkeit und all seinem Zorn hatte sich ganz zu Beginn des Psalms an Gott gewandt, ihn zum Gericht über die Mächtigen gerufen. Er bleibt sich bei allem treu: Gott ist Richter, er soll auch Vollstrecker sein. So schließt sich der Rahmen: Gott ist der Gott der Vergeltung, er soll die Mächtigen, die Unterdrücker vernichten. Er soll eben dadurch die gute Ordnung der Welt wieder herstellen. Aber – und das ist ein typischer Zug biblischer ´Gewalttexte´ – der Beter ruft nach der Gewalt, ist aber selbst völlig machtlos.

Immer wieder ist genau das in der Bibel zu finden: Statt selbst den Rächer zu spielen, wird Gott angerufen, die Vergeltung in seine Hand gelegt. Auf der einen Seite geschieht das aus dem Vertrauen in die gute Ordnung der Welt, die von Gott aufgerichtet worden ist, auf der anderen Seite steht aber auch das Wissen um Gottes Überlegenheit und Allwissenheit. Er ist eben der Gott, der dem Menschen immer wieder Lektionen in Barmherzigkeit erteilt.



5. Gott und der gewalttätige Mensch: Jona

Eine solche Lektion bekommt der Prophet Jona erteilt. Er soll der Stadt Ninive das Gericht androhen, versucht sich diesem Auftrag Gottes durch Flucht zu entziehen. Er wird jedoch auf der Flucht von Gott ´eingeholt´ und muß seinen Auftrag erfüllen. Er droht Ninive das Gericht an, aber Ninive kehrt um, tut Buße, und Gott sieht von der Bestrafung der Stadt ab. Jona ist mit dieser Barmherzigkeit Gottes unzufrieden. Jona setzt sich in Sichtweite der Stadt nieder, um zu sehen, wie es der Stadt ergehen wird. Gott läßt über ihn eine Rizinusstaude wachsen, die ihm Schatten spendet. Darüber ist der ansonsten sehr unzufriedene und mürrische Prophet erstmals im ganzen Buch erfreut. Doch Gott läßt die Staude ebensoschnell vertrocknen, wie er sie hat aufsprießen lassen.


  1. 9Und Gott sprach zu Jona: Ist es recht, daß du wegen des Rizinus zornig bist? Und er sagte: Mit Recht bin ich zornig bis zum Tod! 10Und der Herr sprach: Du bist betrübt wegen des Rizinus, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast [...]. 11Und ich, ich sollte nicht betrübt sein wegen der großen Stadt Ninive, in der mehr als 120000 Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und eine Menge Vieh? (Jona 4, 9 – 11)


Auch Gott kann den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit außer Kraft setzen. Aber er setzt diesen Zusammenhang zugunsten des Menschen außer Kraft. Das muß Jona lernen: Gott kann auf die ihm zustehende Gewalt der Gerechtigkeit verzichten, dann ist es selbstverständlich, daß der Mensch erst recht auf die Gewalt verzichtet.

So absurd es klingt: Der Fluch, Gott möge die Hochmütigen vernichten, ist tatsächlich ein erster Schritt auf dem Weg in die Gewaltlosigkeit.



Um die Vortragsform nicht zu zerstören, wurde in diesem Text auf die ansonsten selbstverständlich üblichen Fußnotenbelege verzichtet. Die Ausarbeitung stützt sich wesentlich auf die folgende Literatur:


Dillmann, Rainer: Die Bibel – ein gewalttätig-inhumanes Buch? Anmerkungen zu Franz Buggles Buch „Denn sie wissen nicht, was sie glauben“. In: Religionsunterricht an höheren Schulen 2/1994, S. 77 – 87


Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen 1. Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis. Freiburg: 1978


Görg, Manfred: Der „schlagende“ Gott in der „älteren“ Bibel. In: Bibel und Kirche 51 (3/1996), S. 94 – 100


Hossfeld, Frank-Lothar; Zenger, Erich: Psalmen 51 – 100. Freiburg: 2000 (= Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament)


Jauss, Hannelore: Fluchpsalmen beten? Zum Problem der Feind- und Fluchpsalmen. In: Bibel und Kirche 51 (3/1996), S. 107 – 115


Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen. Zürich: 41984


Kiesow, Klaus: Das Erste Testament und die Gewalt. Ein Orientierungsversuch in fünf Schritten. In: Religionsunterricht an höheren Schulen 2/1994, S. 73 – 76


Schwager, Raymund: Biblische Texte als >Mischtexte<. Das hermeneutisch-spirituelle Programm der >Entmischung<. In: Katechetische Blätter 119 (1994), S. 698 - 703


Zenger, Erich: Der Gott der Bibel – ein gewalttätiger Gott? In: Katechetische Blätter 119 (1994), S. 687 - 696