Kannibalen in Westfalen?
Veranstaltung an der Volkshochschule Warstein
Einführungsvortrag:
Mittwoch, 24. April 2002
Exkursion: 7. Juni 2002, Parkplatz Narrenberg, Sichtigvor
Den
vollständigen Text des Vortrages finden Sie hier.
Kannibalen in Westfalen?
Zur
Deutung nachpaläolithischer Höhlennutzung
Krebs (1933) | ||||||||
Albrecht (1983) | ||||||||
Kohle (1958) | ||||||||
Henneböle (1960/63) | ||||||||
Beck (1975) | ||||||||
Capelle (1982) | ||||||||
Polenz (1983/91) | ||||||||
Bleicher (1991) | ||||||||
Bernhard (1995) | ||||||||
Rind (1996) | ||||||||
Hackler u.a. (1996) | ||||||||
Bockisch-Bräuer (1996) | ||||||||
Flindt (1998) | ||||||||
Peter-Röcher (1998) | ||||||||
Orschiedt (1999) | ||||||||
Hömberg (2000) | ||||||||
Flindt (2001) |
Quellen
zur Übersicht und Literatur:
Vertreter der ´monströsen Völker´ (1554)
Als Anzeichen für Kannibalismus werden gemeinhin folgende Befunde gewertet:
Das
Totenfest der Huronen
"Die detaillierteste Beschreibung dieses Bestattungsvorganges stammt von dem Jesuiten Jean de Brébeuf, der im Jahre 1636 ein solches ´Feast of the Dead´ miterlebte. Nachdem der Platz für die Sekundärbestattung von den Ältesten ausgewählt worden ist, wurden die Toten der verschiedenen Dörfer, die an der Zeremonie beteiligt waren, exhumiert. Die Überreste der mehr oder weniger verwesten Toten wurden aufgebahrt, [sic!] und die Knochen von noch anhaftenden Weichteilen befreit. Diese Reste wurden zusammen mit den noch an den Toten befindlichen Textilien verbrannt. Die weiblichen Verwandten des Toten reinigten die Knochen und wickelten sie zusammen mit Beigaben in Biberfelle ein. Diesen Bündeln gab man menschliche Umrisse. Die erst kürzlich Verstorbenen wurden in ihrem Zustand belassen, weder zerteilt, noch wurde das Fleisch von den Knochen gelöst. Die Bündel wurden bis zur Beisetzung im Kollektivgrab am Dachfirst aufgehängt oder auf dem Boden des größten Langhauses ausgelegt. Bei dem Ossuarium handelte es sich meist um eine tiefe kesselförmige Grube, um die eine Holzplattform mit einem Gerüst errichtet wurde. Auf ein Zeichen der jeweiligen Dorfhäuptlinge wurden vor der Beisetzung die Bündel mit den Gebeinen der Toten an das Gerüst gehängt, wobei jedes Dorf seine Toten gesondert befestigte. Zuvor wurden die Bündel noch einmal geöffnet, die Toten betrauert und weitere Beigaben hinzugefügt. [...] Bei Sonnenaufgang wurden die Bündel von dem Gerüst abgenommen, aufgewickelt und die Knochen zusammen mit weiteren Beigaben in die Grube geschüttet. Hierbei sollten sich die Überreste der verschiedenen Toten gut vermischen [...]."
Orschiedt, J.:
Manipulationen. S. 27
Sekundärbestattung
bei den Aborigines
"Einzelne Bündelbestattungen erwachsener Individuen werden bei den Lyne River People durchgeführt, wobei die Bündel eine unterschiedliche anatomische Zusammensetzung aufweisen. Das erste Bündel besteht aus Armknochen, Schienbeinen, Händen, Schulterblätter, Schlüsselbeinen und Rippen. Das zweite Bündel wird aus den Oberschenkeln, Füßen, Becken, Wirbeln und Zähnen gebildet. Das dritte Bündel schließlich besteht aus den Kniescheiben, dem Brustbein, dem oberen Abschnitt der Wirbelsäule und dem Unterkiefer. Der Deponierungsort der einzelnen Bündel variiert. Ein Bündel wird an dem Teich niedergelegt, an dem der Geist des Verstorbenen von seinem Vater zuerst ´gefunden´ wurde. Ein weiteres Bündel wird an dem Platz niedergelegt, an dem die Nabelschnur des Verstorbenen vergraben wurde. Das dritte Bündel wird, falls es sich um einen männlichen Toten handelt, vom Bruder der Mutter am Platz der Initiation beigesetzt, während die Skelettreste einer Frau an dem Platz niedergelegt werden, an dem das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt zum ersten Mal mit Holzkohle bemalt wurde. Der Schädel eines Mannes wird schließlich unter einem Stein beigesetzt, der an sein erstes getötetes Känguruh erinnert, während der Schädel einer Frau an dem Platz beigesetzt wird, an dem sich die Verstorbene als Säugling zum ersten Mal krabbelnd fortbewegte."
Orschiedt, J.: Manipulationen. S. 27Stefan Enste, April 2002
Weiterführende Literatur:
Peter-Röcher,
Heidi: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der
Kannibalen. München: Beck 1998 (= Beck´sche Reihe, 1262); ISBN:
3-406-42062-1; 9.90 EUR
Dieses Taschenbuch ist gewissermaßen die Zusammenfassung der verschiedenen Veröffentlichungen der Autorin zum Thema "Kannibalismus" und zur Deutung archäologischer Funde und Befunde. 156 spannende und interessante Seiten, fachlich und wissenschaftlich korrekt, dennoch (ich meine: gerade deshalb!) sehr gut lesbar. Die dickste Empfehlung! |
||
Höhlen im Westharz
und Kyffhäuser. Geologie, Speläologie, Archäologie.
Holzminden: Mitzkat-Verlag 2001; ISBN: 3-931656-38-1; 17,80 EUR |
||
Kusch, Heinrich;
Kusch, Ingrid: Kulthöhlen in Europa. Götter, Geister und
Dämonen. ???: Styria 2001. ISBN: 3-8025-2857-3; 34.90 EUR |
||
Bleicher,
Wilhelm: Die Bedeutung der eisenzeitlichen Höhlenfunde des Hönnetals.
Ein Beitrag zur Ur- und Frühgeschichte des nördlichen Sauerlandes.
Altena: 1991 (= Altenaer Beiträge, 19) ISBN/ISSN: 3-923262-04-3;
12,78 EUR
Vor allem die gute Verarbeitung, der günstige Preis und die vielen Abbildungen und Zeichnungen machen dieses Buch |
Weiterführende Links:
Hier
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Kurze
Beschreibung des Links
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Im Vortrag wurde auf die mittelalterlichen Weltkarten verwiesen, auf denen die ´monströsen Völker´ am äußersten Rande der Welt dargestellt sind. Hier nun die Kannibalen auf der berühmten Ebstorfer Weltkarte | |
Die ´monströsen Völker´ der Ebstrofer Weltkarte: | |
Informative Seite mit guten Bildern mittelalterlicher Karten (aus der die Details hier stammen): | |
Einer der zahlreichen ´Beweise´ für Kannibalismus (bei hochmittelalterlichen Pueblo-Indianern): | |
Die gleiche Geschichte bei Spiegel-Online. |
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Eine weitere Meldung über Kannibalismus, nun beim Neandertaler. |
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Interessanter kleiner Artikel, der einige typische Züge zeigt: Kannibalismus ist ein heute überwundener früherer Zustand, spätestens mit der Einführung des Christentums (meist aber - wundersam - eine oder zwei Generationen früher...) |
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Kurzer Artikel, der auf WDR5 gesendet wurde. In der Linkliste - ein wenig stolz macht das schon - auch mein ´Kannibalen-Vortrag´: | |
Ein Link auf der oben genannten Seite - WDR5 - ist jedoch falsch. Die bildliche Darstellung des Zerlegens menschlicher Körper für den Verzehr findet sich tatsächlich hier. |
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Homepage von Jörg Orschiedt, nun Uni Hamburg. |
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Homepage von Heidi Peter-Röcher, FU Berlin: |
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Liste der Veröffentlichungen von Heidi Peter-Röcher | |
Menschenfresserei bei Friedrich Engels, in "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (recht lange Seite mittels ´Suchen´-Funktion nach "Menschenfresserei" durchsuchen!): |
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Zwei Bilder vom Eingang der Jungfernhöhle bei Tiefenellern | |
Meine private Internet-Seite der Bilsteinhöhle. Auch dort zahlreiche Informationen zum Thema Ur- und Frühgeschichte... |
Texte zur Matriarchatsfrage
Matriarchat
1. Matriarchat bezeichnet eine mutterrechtliche Gesellschaftsförm,
in der sowohl die Familienstruktur als auch Wirtschaft und Politik als auch
die Religion weiblich geprägt sind. Charakteristika, die einzeln
oder gehäuft auftreten können, sind: 1. Matrilinearität (Herkunft
nach der Mutter), 2. Matrilokalität (Wohnsitz nach der Mutter), 3. sexuelle
Selbstbestimmung der Frau, auch vor und in der Ehe, 4. Eheforinen wie Besuchsehe
oder Polyandrie, 5. abhängige Stellung des Mannes in der Gesellschaft (Ämterzuteilung
durch die Mütter) und in der Familie (keine Verwandtschaft mit den von
ihm gezeugten Kindern, sondern soziale Vaterschaft für die Kinder seiner
Schwester), 6. Matrifokalität (Kontrolle der Werte und Normen durch die
Mütter), 7. Vererbung von Sachen und Ämtern nach der Mutter, 8. soziokulturelle
Dominanz der Frau als Verwalterin des Landes (Ackerflächen und Weidegründe),
der Ämter und der Kultobjekte, 9. religiöse Dominanz der Frau z. B.
als Ahnfrau, Schamanin, Priesterin.
2. Wissenschaftstheoretische Aspekte, Der Begriff Matriarchat ist in
seiner wissenschaftlichen und öffentlichen Verwendung umstritten. Er wurde
erstmalig in der ethnologisch-anthropologischen Diskussion im Europa des ausgehenden
19. Jh.s verwendet und wird seitdem meistens in der Bedeutung einer Gesellschaftsform
verstanden, die ein exaktes Spiegelbild der patriarchalischen Gesellschaftsordnung
(Patriarchat) traditionellen Zuschnitts darstellt (= Frauenherrschaft mit Unterdrückung
der Männer). Da sich indes eine solche Gesellschaftsform empirisch nicht
nachweisen ließ, geht die bis in die Gegenwart andauernde traditionelle
akademische Diskussion von der Überzeugung einer - historischen wie aktuellen
- Nichtexistenz von Matriarchaten aus. Demgegenüber sieht die von einem
Teil der älteren Forschung angelegte und von der Frauenforschung (Feministische
Forschung) aufgenommene und ausgeformte Matriarchtsdefinition das Matriarchat
als eine ursprünglich egalitäre, später gynaikokratische und
theakratische Gesellschaftsform an, in welcher trotz der ökonomischen,
sozialen und religiösen Dominanz der Frauen die Männer nicht unterdrückt
waren, sondern wichtige Positionen sowohl in der Gesellschaft z. B. als (sakrale)
Könige, Verwaltungsbeamte und Heerführer als auch in der Familie als
soziale Väter der Kinder der eigenen mütterlichen Lineage innehaben
konnten (Avunkulat). Solcherart definierte Matriarchate werden für die
chthonischen Jungsteinzeitgesellschaften bis hin zu den Hochkulturen der Bronzezeit
(Sumer, Altägypten, Kreta, Indien) angenommen sowie in Resten bei einigen
Stammesgesellschaften in Indien, Indonesien und Afrika. Beide Definitionen von
Matriarchat stehen einander heute, zum Schaden der Matriarchatsforschung insgesamt,
unverändert gegenüber. Aufgrund der ungeklärten Lage wird der
Begriff heute akademischerseits weitgehend vermieden und stattdessen auf die
Differenzierungen der Einzelmerkmale (s. o. 1.) zurückgegriffen.
3. Der kulturhistorische Aspekt der Matriarchatsforschung bezieht sich
a) auf die Gesellschaftsevolution und b) auf die Religion.
a) Bachofens epochemachende Mutterrechtstheorie, die später von
Morgan und Bebel weitergeführt wurde, vertritt die These
von der Evolution der Menschheit vom frühesten Zeitalter genereller Promiskuität
über das materieverhaftete Stadium der Gynaikokratie hin zum höchsten
geistigen Stadium des Patriarchats. Dagegen sah Schmidt das Matriarchat
als eine zu überwindende Degenerationsstufe des ursprünglich global
herrschenden Urpatriarchats an. Diese beiden Hauptströmungen der traditionellen
Matriarchatsforschung wurden bis heute u. a. von der Ethnologie (Briffault,
Malinowski), der Sozialtheorie (Engels, Reich), der Psychologie (Freud, Kerenyi,
Fromm), der Mythenforschung (Frazer, James, Ranke-Graves) und der Religionswissenschaft
(Zinser, Gerlitz) mit widersprüchlichen Ergebnissen weitergeführt.
Kaum weniger ideologielastig, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen in der Bewertung,
war die ältere feministische Matriarchatsforschung (Gould Davis, Schreier,
Sir Galahad), welche im globalen Urmatriarchat das später durch patriarchale
Eroberungskriege zerstörte legendäre Goldene Zeitalter der Menschheit
sah. Die neueren feministischen Matriarchatstheorien sind, bei ähnlicher
Prämissensetzung, deutlich um ein größeres Maß an methodologischer
Reflexion bemüht (Gimbutas, Göttner-Abendroth, Stone, Wagner, Weiler),
werden aber im Zuge des Geschlechterkampfes ebensooft zur Weltbildkonstruktion
der Frauen benutzt, wie dies die patriarchalischen Theorien auf seiten der Männer
wurden und werden.
b) Die historischen (z. B. germanisch-keltischen, altorientalischen, griechischen)
und die zeitgenössischen (z. B. indischen, stammesreligiösen) Göttin-Mythologien
finden heute breite Beachtung in der feministischen Matriarchatsforschung und
auf der Ebene der persönlichen Spiritualität regen Zuspruch bei vielen
Frauen. Die Große Göttin, die in ihrer dreifachen Gestalt als Jungfrau,
Mutter und weise Alte drei zentrale potentielle Lebensstadien der Frau verkörpert,
tritt als religiöses Identifikationsobjekt und als Symbol des ewig-weiblichen
Prinzips für viele an die Stelle des biblischen Gottes (oder neben ihn)
und prägt sowohl die Entstehung neuer Frauenrituale als auch Ansätze
einer feministischen Ethik (Daly, Christ, Radford Ruether, Sorge, Starhawk).
Daneben steht meistens das männliche Prinzip in Gestalt des Heros oder
des Gehörnten Gottes, welches seinerseits im Jahreszyklus das Werden und
Vergehen symbolisiert. Ob die derzeitige still fortschreitende Verbreitung der
Göttin-Kulte bereits als Anzeichen der Entstehung einer neuen Religion
gewertet werden kann, ist noch nicht definitiv zu sagen (Pahnke).
Literatur
Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht, 2 Bde. (1861), Basel 1948 - Robert Briffault, The Mothers, 3 Bde., London 1927- Marija Gimbutas, The Goddesses and Gods of Old Europe, London 1982 - Heide Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, München 1980 - dies., Das Matriarchat I. Geschichte seiner Erforschung, Stuttgart 1988 - Edwin OliverJames, The Cult of the Mother Goddess, London 1959 - Donate Pahnke, Ethik und Geschlecht. Menschenbild und Religion in Patriarchat und Feminismus, Marburg 1991 - dies., Die Neuen Hexen. Spiritualität und Politik, Schlangenbrut 30 (1990) 8-14 - Wilhelm Schmidt, Das Mutterrecht, Wien 1955 - Merlin Stone, Als Gott eine Frau war, München 1988 - Beate Wagner, Zwischen Mythos und Realität. Die Frau in der frühgriechischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1982 - Gerda Weiler, Ich verwerfe im Lande die Kriege. Das verborgene Matriarchat im Alten Testament, Stuttgart 1989 - Hartmut Zinser, Der Mythos des Mutterrechts, Frankfurt a. M. 1981.
Donate Pahnke
(Aus: Wörterbuch der feministischen Theologie. Hg. von Elisabeth Gössmann u.a. Gütersloh: 1991)
Matriarchat-Patriarchat.
1. Begriff. Die abendländische Geschichte und Kultur ist seit ca.
viertausend Jahren androzentrisch geprägt. Daß es sich hierbei nicht
um ein Naturgesetz handelt, sondern daß es davor - bei einigen Völkern
sind Spuren bis heute erhalten - andere Formen gegeben hat, wird erst seit dem
19. Jh. systemat. erforscht. Dabei ist der Begriff M., wie er analog zu P. gebildet
worden ist, ein in sich mißverständlicher Terminus. Von der griech.
Bedeutung arche her, die sowohl "Beginn", "Ursprung" wie
auch "Macht", "Vorherrschaft" ausdrückt, geht es dabei
um Rollen- und Machtverteilung. Der Begriff M. ist damit im Sinne eines Kampfes
der Geschlechter vorgeprägt, wobei im M. das weibliche, im P. das männliche
die Oberhand hätte.
2. Bachofen. Grundlegend für die Auslösung der neueren Diskussion
ist "Das Mutterrecht" von J.J. Bachofen (1861). Der Verfasser geht
aus von einem romantisch verstandenen Muttertum, woraus dann in politisch-gesellschaftlicher
Ausweitung gynaikokratische Strukturen abgeleitet werden. Im Mutterrecht sieht
er "das ursprüngliche Lebensgesetz", das nicht einem bestimmten
Volke, sondern einer "Kulturstufe" angehörte (Vorrede). Das Weib
ist früher als der Mann, "das Weib ist das Gegebene, der Mann das
aus ihr erst Gewordene ... auf dem Gebiet des physischen Lebens steht also das
männliche Prinzip an zweiter Stelle, es ist dem weiblichen untergeordnet.
Darin hat die Gynaikokratie ihr Vorbild und ihre Begründung" (124f.).
Kennzeichen dieser mutterrechtlichen Strukturen waren für Bachofen der
Vorzug der Nacht/des Dunkels, der Auszeichnung des Mondes vor der Sonne, der
Erde vor dem Meer im kosmischen Bereich, der Vorzug der Schwester vor dem Bruder,
der jüngsten Geburt vor der ersten im Sippenbereich, die besondere Anlage
der Frau für die Frömmigkeit im rel. Bereich. Die Untersuchung alter
Völker beginnt mit den Lykiern (Herodot), es folgten Kreta u. a. Als hist.
Quellen zieht Bachofen auch Mythen heran. Letztlich ist seine Untersuchung jedoch
nicht hist., sondern ideologisch, Hintergrund ein philos. Platonismus, für
den die Übermacht des männlichen (= geistigen) Prinzips feststeht.
Das weibliche, mutterrechtliche Stadium dient dabei nur als Kontrastmittel zur
Heraushebung des höheren, des männlichen Zeitalters. So ist für
Bachofen die "gynaikokratische Weltperiode ... die Poesie der Geschichte"
(17). Die Entwicklung geht von unten nach oben, von Stoff zu Geist, von Mutterrecht
zu Vaterrecht, wobei das röm. Recht den Höhepunkt bildet. Den idealen
Zustand der Geschlechter beschreibt Bachofen am Ende des Abschnitts über
Kreta: Wie der Mond der Sonne, so folgt Ariadne dem Sonnenhelden Theseus. "Von
des Mannes höherer Natur geblendet ..., sehnt sich das Weib nach Einigung
mit ihm und findet in der Unterordnung unter den Geliebten ihre höchste
Befriedigung. Damit erst ist das Verhältnis der Geschlechter mit dem höchsten
kosmischen Gesetz in Übereinstimmung gebracht" (137). Trotz dieser
männlichen Selbstrechtfertigung gebührt Bachofen das Verdienst, eine
Diskussion angeregt zu haben, die in mutterrechtlichen Strukturen nicht nur
gelegentliche Ausnahmen, sondern eine frühere Kulturstufe sah. Hier hat
die Forschung weitergearbeitet und neues Material zutage gefördert, das
weiter zurückreicht als das auf griech.-röm. Quellen beschränkte
Bachofens.
3. Feministische M.s-Forschung. Es gab nicht wenige Jh.e weiblicher Kulur
vor der männlichen, sondern beim M. handelt es sich um einen Zeitraum,
der um ein Vielfaches größer ist als die als normativ angesehenen
patriarchalischen Strukturen. Feministische M.s-Forschung arbeitet nicht nur
mit hist. Quellen im strengen Sinn, sondern auch mit Mythen, da diese häufig
Zustände auf der gesellschaftlichen Ebene widerspiegeln oder bewahren;
schriftliche Quellen werden mit zunehmendem zeitlichem Abstand seltener. Geographisch
stammt das meiste Material aus dem Gebiet des sog. fruchtbaren Halbmondes von
Indien über Mesopotamien und Ägypten zum gesamten Mittelmeerraum.
H. Göttner-Abendroth unterscheidet ein M. auf ökonomischer, auf sozialer
und rel. Ebene. Nur wo alle Kennzeichen vorkommen, kann von einer matriarchalischen
Gesellschaft gesprochen werden (Sumer, Altpersien, Altägypten und Kreta).
Die Ökonomie war geprägt durch Garten- oder Ackerbau, der Boden gemeinschaftlicher
Besitz der (weiblich geprägten) Sippe. Die Familienstruktur war mutterrechtlich
durch Matrilinearität und Matrilokalität bestimmt; Blutsverwandtschaft
gab es nur über die Mutter, da Vaterschaft noch unbekannt war. Die staatliche
Ebene war durch Gynaikokratie geregelt. Erd-, später Mondgöttinnen
bestimmten das rel. Leben, der rituelle Nachvollzug (Feste) war zyklisch, im
Mittelpunkt standen Hochzeit, Geburt und Tod (Wiedergeburt). Alle matriarchalischen
Religionen sind jahreszeitlich durch den Zyklus der Vegetation bestimmt. Auf
der primitiven Stufe zunächst eine Erdmutterreligion (vgl. die verbreiteten
weiblich-mütterlichen Figuren und Symbole), kam in der entwickelten Form
ein astrales Element dazu mit dem Mond (nicht der Sonne) im Zentrum. Typisch
für die matriarchalischen Religionen ist die Dreizahl, anschaulich an der
veränderlichen Form der Mondsichel und am Vollmond ablesbar, wie es sich
an zahlreichen Darstellungen und Symbolen (z. B. Doppelaxt in Kreta, Höhlenzeichnungen)
ablesen läßt. Die dreifaltige Mondgöttin als junges Mädchen,
weise Frau und alte Frau (oder: Jungfrau - Mutter - Greisin) erscheint in allen
frühen Göttinnen der matriarchalischen Hochkulturen als "Himmelskönigin"
(Innana in Sumer, lstar-Astarte in Mesopotamien/Babylonien, Isis-Hathor in Ägypten).
Der Übergang vom M. zum P. ist heftig umstritten. Sicher gibt es dafür
nicht nur eine Ursache, sondern es handelt sich um einen jahrhundertelangen
Prozeß. Eine der wichtigsten Ursachen war wohl die Entdeckung der Vaterschaft,
andere Theorien sehen das Aufkommen des P. im Zusammenhang mit dein Privateigentum
(Bornemann) oder, mit Jagd und Krieg im Gegensatz zu den friedlichen, unkriegerischen
matriarchalischen Ordnungen.
4. Altes Testament. So patriarchalisch wie die profane und die Philosophiegeschichte,
die im allg. mit den Griechen und Römern begonnen wird, ist auch der rel.-theol.
Bereich. Dies gilt lies. für die atl.-jüd. Kultur, die die westl.christl.
Wertvorstellungen mindestens ebenso geprägt hat wie die griech.-röm.
Insbesondere die Bibel des AT, auf die sich die drei großen monotheistischen
Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam berufen, ist in einer patriarchalischen
Gesellschaft entstanden. Die Bücher des AT, die in einem Zeitraum von ca.
1000 Jahren geschrieben wurden, sind jedoch differenziert zu betrachten. Gerade
in den älteren Teilen des AT sind noch vielerlei Spuren einer früheren
Ordnung erkennbar. Die Eheformen, die in der Endredaktion des AT überaus
patriarchalisch sind (ein Mann kann mehrere Frauen besitzen, der Stamm, die
Blutsverwandtschaft regelt sich ausschließlich über den Mann, nur
der Mann kann seine Frau entlassen, die Frau hat kein Scheidungsrecht usw,),
zeigen in den ältesten Texten eine erstaunliche Variabilität. So gibt
es mancherlei Spuren der sog. Beena-(Besuchs-)Ehe, d. h. die Frau bleibt in
ihrer Sippe wohnen, der Mann kommt lediglich zu Besuch (vgl. Gen 3 1; Ri 8 f.;
14-16). Geschlechtsverkehr und selbst Ehe sind noch in der Königszeit zwischen
Geschwistern möglich, sofern sie nur verschiedene Mütter haben. In
dem begründenden Satz des jahwistischen Schöpfungsberichts: "Darum
verläßt der Mann Vater und Mutter - - ." (Gen 2,24), könnte
ein früheres matriarchalisches Stadium erhalten sein. Bei der Namengebung
der Kinder, die überwiegend durch die Mutter erfolgt, sind bis in späteste
Zeit alte Strukturen sichtbar, ebenso in der Tatsache ' daß einer als
Jude immer nur über die Mutter definiert wird, der Vater zählt dabei
nicht. in der vorexilischen Zeit spielten Frauen auch soziologisch und theol.
eine überaus wichtige Rolle, wie dies noch in der Entwicklung mancher Texte
sichtbar zu machen ist, z. B. Mirjam neben Mose, Debora neben Josua u.a. Hervorzuheben
ist auch das mit einem eigenen Titel versehene Amt der Königinmutter (gbirah),
dessen Wurzeln in andere altoriental. Kulturen zurückreichen. Wenn auch
die patriarchalische Grundstruktur der atl. Schriften nicht geleugnet werden
kann, vor allem nicht eine mehrfache androzentrische Überarbeitung und
Endredaktion, ist doch davor zu warnen, das AT vorschnell als rein patriarchalisches
Produkt abzuwerten.
5. Gottesbild. Ist die Vorherrschaft der männlichen über die
weiblichen Strukturen nur äußerlich, ist ihre Aufbebung verhältnismäßig
leicht. Problematisch wird es, wenn die männliche Vorherrschaft so verinnerlicht
wird, daß das Weibliche selbst die eigenen Werte verleugnet und nur noch
das Männliche als Bild für das Göttlich-Transzendente geeignet
erscheint. So spitzt sich alles auf die Frage zu, wie weit patriarchalische
Strukturen die christl.-jüd. (und islam.) Gottesvorstellung so beeinflussen,
daß Gott nur mehr in männlicher Terminologie (Herr, Richter, Held,
Retter, Vater usw.) vorstellbar ist. In Israel hat sich ein theoretischer Monotheismus
androzentrischer Prägung bekanntlich erst sehr spät, im Exil (6. Jh.
v. Chr.), durchgesetzt, und zwar offenbar gerade gegen weibliche Gottheiten,
die im Alten Orient sehr einflußreich waren. Noch Jeremia kämpft
gegen den Kult der "Himmelskönigin", die die Jerusalemer Frauen
(und Männer) offenbar für wirkmächtiger halten als den (männlich
geprägten) Jahwe der Propheten (vgl. Jer 7; 44). - Je androzentrischer
das Gottesbild wird, desto starrer und spekulativer wird es. In der christl.
Lehre von der Dreifaltigkeit läßt sich fast ein Kampf zwischen der
matriarchalischen Vorliebe für die Dreizahl und dem für das P. typischen
Dualismus finden: Die dritte Person der Dreifaltigkeit, Gottes lebenspendende
Schöpfer- und Liebeskraft, die in der Symbolik (Taube!) und in der Dichtung
wie im AT (ruah) fast immer weiblich ist, ist in Gefahr, von der männlich
geprägten Zweiheit VaterSohn verdrängt bzw. vereinnahmt zu werden.
Je androzentrischer das Gottesbild ist, desto weniger kann es anfangen mit dem
Hl. Geist, jenem weiblichen Element in der Trinität, das in der christl.
Theologie (und Praxis!) regelmäßig zu kurz kommt.
Da der Mensch Geschichte nicht rückgängig machen kann ist eine Rückkehr
ins M. oder zu den aiten Göttinnen eine Illusion. Die Zukunft kann nur
durch Überwindung patriarchalischer Strukturen auf gesellschaftlicher Ebene
und im theol. Symbolsystem bestehen, so daß es zu einem integrierten Gottesbild
kommt, wo es nicht mehr um Kampf des einen gegen das andere Geschlecht geht,
sondern um Ganzheit und Partnerschaft.
Lit. J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Frankfurt 1980; E. Bornemann, Das P. Frankfurt 1983; M. Daly, Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. München 1980; F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin 6. Aufl. 1953; H. Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros. München 1982; M E. P König, Die Frau im Kult der Eiszeit; R. Fester u.a. Weib und Macht. Frankfurt 1982,107-158; E. Neumann, Die große Mutter. Freiburg 1981; H. Schüngel-Straumann, Gott als Mutter in Hosea 11: ThQ 166 (1986) 119-134; G. Weiler, Ich verwerfe im Lande die Kriege. München 1984; U. Winter, Frau und Göttin. Göttingen 1983.
H. Schüngel-Straumann
(Aus: Lexikon der Religionen. Phänomene, Geschichte, Ideen. Freiburg: 1987)
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