Kannibalen in Westfalen?

Veranstaltung an der Volkshochschule Warstein

Einführungsvortrag: Mittwoch, 24. April 2002
Exkursion: 7. Juni 2002, Parkplatz Narrenberg, Sichtigvor

Den vollständigen Text des Vortrages finden Sie hier.

 

 

 

 

 

 

 

 

 




Kannibalen in Westfalen?

Zur Deutung nachpaläolithischer Höhlennutzung

Krebs (1933) Ja Ja keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe
Albrecht (1983) Ja keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe
Kohle (1958) keine Angabe Ja Ja Ja keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe
Henneböle (1960/63) Ja Ja keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe
Beck (1975) keine Angabe Ja Ja keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe keine Angabe
Capelle (1982) Ja Ja möglicherweise keine Angabe Ja möglicherweise keine Angabe keine Angabe
Polenz (1983/91) keine Angabe keine Angabe Ja Ja keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe
Bleicher (1991) möglicherweise keine Angabe Ja Ja möglicherweise Ja keine Angabe keine Angabe
Bernhard (1995) keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe möglicherweise keine Angabe keine Angabe möglicherweise
Rind (1996) keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe möglicherweise keine Angabe keine Angabe
Hackler u.a. (1996) keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe
Bockisch-Bräuer (1996) keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe
Flindt (1998) keine Angabe keine Angabe Ja möglicherweise keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe
Peter-Röcher (1998) möglicherweise möglicherweise möglicherweise keine Angabe Ja keine Angabe möglicherweise keine Angabe
Orschiedt (1999) keine Angabe keine Angabe keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe keine Angabe keine Angabe
Hömberg (2000) keine Angabe keine Angabe möglicherweise keine Angabe keine Angabe möglicherweise keine Angabe keine Angabe
Flindt (2001) keine Angabe keine Angabe Ja keine Angabe Ja Ja keine Angabe keine Angabe

Quellen zur Übersicht und Literatur:

 


Vertreter der ´monströsen Völker´ (1554)

Als Anzeichen für Kannibalismus werden gemeinhin folgende Befunde gewertet:

Das Totenfest der Huronen

"Die detaillierteste Beschreibung dieses Bestattungsvorganges stammt von dem Jesuiten Jean de Brébeuf, der im Jahre 1636 ein solches ´Feast of the Dead´ miterlebte. Nachdem der Platz für die Sekundärbestattung von den Ältesten ausgewählt worden ist, wurden die Toten der verschiedenen Dörfer, die an der Zeremonie beteiligt waren, exhumiert. Die Überreste der mehr oder weniger verwesten Toten wurden aufgebahrt, [sic!] und die Knochen von noch anhaftenden Weichteilen befreit. Diese Reste wurden zusammen mit den noch an den Toten befindlichen Textilien verbrannt. Die weiblichen Verwandten des Toten reinigten die Knochen und wickelten sie zusammen mit Beigaben in Biberfelle ein. Diesen Bündeln gab man menschliche Umrisse. Die erst kürzlich Verstorbenen wurden in ihrem Zustand belassen, weder zerteilt, noch wurde das Fleisch von den Knochen gelöst. Die Bündel wurden bis zur Beisetzung im Kollektivgrab am Dachfirst aufgehängt oder auf dem Boden des größten Langhauses ausgelegt. Bei dem Ossuarium handelte es sich meist um eine tiefe kesselförmige Grube, um die eine Holzplattform mit einem Gerüst errichtet wurde. Auf ein Zeichen der jeweiligen Dorfhäuptlinge wurden vor der Beisetzung die Bündel mit den Gebeinen der Toten an das Gerüst gehängt, wobei jedes Dorf seine Toten gesondert befestigte. Zuvor wurden die Bündel noch einmal geöffnet, die Toten betrauert und weitere Beigaben hinzugefügt. [...] Bei Sonnenaufgang wurden die Bündel von dem Gerüst abgenommen, aufgewickelt und die Knochen zusammen mit weiteren Beigaben in die Grube geschüttet. Hierbei sollten sich die Überreste der verschiedenen Toten gut vermischen [...]."

Orschiedt, J.: Manipulationen. S. 27



Sekundärbestattung bei den Aborigines

"Einzelne Bündelbestattungen erwachsener Individuen werden bei den Lyne River People durchgeführt, wobei die Bündel eine unterschiedliche anatomische Zusammensetzung aufweisen. Das erste Bündel besteht aus Armknochen, Schienbeinen, Händen, Schulterblätter, Schlüsselbeinen und Rippen. Das zweite Bündel wird aus den Oberschenkeln, Füßen, Becken, Wirbeln und Zähnen gebildet. Das dritte Bündel schließlich besteht aus den Kniescheiben, dem Brustbein, dem oberen Abschnitt der Wirbelsäule und dem Unterkiefer. Der Deponierungsort der einzelnen Bündel variiert. Ein Bündel wird an dem Teich niedergelegt, an dem der Geist des Verstorbenen von seinem Vater zuerst ´gefunden´ wurde. Ein weiteres Bündel wird an dem Platz niedergelegt, an dem die Nabelschnur des Verstorbenen vergraben wurde. Das dritte Bündel wird, falls es sich um einen männlichen Toten handelt, vom Bruder der Mutter am Platz der Initiation beigesetzt, während die Skelettreste einer Frau an dem Platz niedergelegt werden, an dem das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt zum ersten Mal mit Holzkohle bemalt wurde. Der Schädel eines Mannes wird schließlich unter einem Stein beigesetzt, der an sein erstes getötetes Känguruh erinnert, während der Schädel einer Frau an dem Platz beigesetzt wird, an dem sich die Verstorbene als Säugling zum ersten Mal krabbelnd fortbewegte."

Orschiedt, J.: Manipulationen. S. 27Stefan Enste, April 2002

Weiterführende Literatur:

Heidi Peter-Röcher: Mythos Menschenfresser
Peter-Röcher, Heidi: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen. München: Beck 1998 (= Beck´sche Reihe, 1262); ISBN: 3-406-42062-1; 9.90 EUR

Dieses Taschenbuch ist gewissermaßen die Zusammenfassung der verschiedenen Veröffentlichungen der Autorin zum Thema "Kannibalismus" und zur Deutung archäologischer Funde und Befunde. 156 spannende und interessante Seiten, fachlich und wissenschaftlich korrekt, dennoch (ich meine: gerade deshalb!) sehr gut lesbar. Die dickste Empfehlung!
 

Höhlen im Westharz und Kyffhäuser. Geologie, Speläologie, Archäologie. Holzminden: Mitzkat-Verlag 2001; ISBN: 3-931656-38-1; 17,80 EUR
Die verschiedenen Aspekte der Höhlenforschung im Westharz und Kyffhäuser werden in diesem großformatigen und reich bebilderten Buch vorgestellt. Für diese Thematik besonders interessant: Der aktuelle Stand der Ausgrabungen und Forschungen in der Lichtensteinhöhle bei Osterode.
Nicht im Buchhandel zu bekommen, dirket zu bestellen bei:
Verlag Jörg Mitzkat, Allersheimerstr. 45, 37603 Holzminden; Tel.: 05531-2426 oder 2548, Fax: 05531-2426; email: info@mitzkat.de (Liferung innerhalb eines Tages!)

Kusch, Heinrich; Kusch, Ingrid: Kulthöhlen in Europa. Götter, Geister und Dämonen. ???: Styria 2001. ISBN: 3-8025-2857-3; 34.90 EUR

Dieses Buch besticht durch die zahlreichen farbigen und schwarzweißen Abbildungen, Grafiken, Karten, Pläne, Zeichneungen... Der Text ist nicht unbedingt auf dem allerneusten Stand, dennoch ein schönes Buch, da es vor allem den Blick auf den ganzen europäischen Raum wirft.

Bleicher, Wilhelm: Die Bedeutung der eisenzeitlichen Höhlenfunde des Hönnetals. Ein Beitrag zur Ur- und Frühgeschichte des nördlichen Sauerlandes. Altena: 1991 (= Altenaer Beiträge, 19) ISBN/ISSN: 3-923262-04-3; 12,78 EUR
Vor allem die gute Verarbeitung, der günstige Preis und die vielen Abbildungen und Zeichnungen machen dieses Buch


Weiterführende Links:

Hier
klicken!
Kurze Beschreibung des Links
Kannibalen auf der Ebstorfer Weltkarte
Im Vortrag wurde auf die mittelalterlichen Weltkarten verwiesen, auf denen die ´monströsen Völker´ am äußersten Rande der Welt dargestellt sind. Hier nun die Kannibalen auf der berühmten Ebstorfer Weltkarte
Die monstroesen Voelker auf der Ebstorfer Weltkarte
Die ´monströsen Völker´ der Ebstrofer Weltkarte:
Mittelalterliche Weltkarten
Informative Seite mit guten Bildern mittelalterlicher Karten (aus der die Details hier stammen):
Artikel ueber Kannibalismus in der Vorgeschichte
Einer der zahlreichen ´Beweise´ für Kannibalismus (bei hochmittelalterlichen Pueblo-Indianern):
Kannibalen-Story im Spiegel

Die gleiche Geschichte bei Spiegel-Online.

Kannibalismus beim Neantertaler???

Eine weitere Meldung über Kannibalismus, nun beim Neandertaler.

Nochmal Kannibalen...

Interessanter kleiner Artikel, der einige typische Züge zeigt: Kannibalismus ist ein heute überwundener früherer Zustand, spätestens mit der Einführung des Christentums (meist aber - wundersam - eine oder zwei Generationen früher...)

WDR5 - Kleine Anfrage
Kurzer Artikel, der auf WDR5 gesendet wurde. In der Linkliste - ein wenig stolz macht das schon - auch mein ´Kannibalen-Vortrag´:
Koerperzerteilung

Ein Link auf der oben genannten Seite - WDR5 - ist jedoch falsch. Die bildliche Darstellung des Zerlegens menschlicher Körper für den Verzehr findet sich tatsächlich hier.

Homepage von Joerg Orschiedt

Homepage von Jörg Orschiedt, nun Uni Hamburg.

Homepage von Heidi Peter-Roecher

Homepage von Heidi Peter-Röcher, FU Berlin:

Veroeffentlichungen von Heidi Peter.Roecher
Liste der Veröffentlichungen von Heidi Peter-Röcher
Kannibalismus bei Friedrich Engels

Menschenfresserei bei Friedrich Engels, in "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (recht lange Seite mittels ´Suchen´-Funktion nach "Menschenfresserei" durchsuchen!):

Bild vom Eingang der Jungfernhoehle, TiefenellernWeiteres Bild vom Eingang der Jungfernhoehle, Tiefenellern
Zwei Bilder vom Eingang der Jungfernhöhle bei Tiefenellern
Bilsteinhoehle
Meine private Internet-Seite der Bilsteinhöhle. Auch dort zahlreiche Informationen zum Thema Ur- und Frühgeschichte...

Texte zur Matriarchatsfrage

Matriarchat

1. Matriarchat bezeichnet eine mutterrechtliche Gesellschaftsförm, in der sowohl die Familienstruktur als auch Wirtschaft und Politik als auch die Religion weiblich geprägt sind. Charakteristika, die einzeln oder gehäuft auftreten können, sind: 1. Matrilinearität (Herkunft nach der Mutter), 2. Matrilokalität (Wohnsitz nach der Mutter), 3. sexuelle Selbstbestimmung der Frau, auch vor und in der Ehe, 4. Eheforinen wie Besuchsehe oder Polyandrie, 5. abhängige Stellung des Mannes in der Gesellschaft (Ämterzuteilung durch die Mütter) und in der Familie (keine Verwandtschaft mit den von ihm gezeugten Kindern, sondern soziale Vaterschaft für die Kinder seiner Schwester), 6. Matrifokalität (Kontrolle der Werte und Normen durch die Mütter), 7. Vererbung von Sachen und Ämtern nach der Mutter, 8. soziokulturelle Dominanz der Frau als Verwalterin des Landes (Ackerflächen und Weidegründe), der Ämter und der Kultobjekte, 9. religiöse Dominanz der Frau z. B. als Ahnfrau, Schamanin, Priesterin.
2. Wissenschaftstheoretische Aspekte, Der Begriff Matriarchat ist in seiner wissenschaftlichen und öffentlichen Verwendung umstritten. Er wurde erstmalig in der ethnologisch-anthropologischen Diskussion im Europa des ausgehenden 19. Jh.s verwendet und wird seitdem meistens in der Bedeutung einer Gesellschaftsform verstanden, die ein exaktes Spiegelbild der patriarchalischen Gesellschaftsordnung (Patriarchat) traditionellen Zuschnitts darstellt (= Frauenherrschaft mit Unterdrückung der Männer). Da sich indes eine solche Gesellschaftsform empirisch nicht nachweisen ließ, geht die bis in die Gegenwart andauernde traditionelle akademische Diskussion von der Überzeugung einer - historischen wie aktuellen - Nichtexistenz von Matriarchaten aus. Demgegenüber sieht die von einem Teil der älteren Forschung angelegte und von der Frauenforschung (Feministische Forschung) aufgenommene und ausgeformte Matriarchtsdefinition das Matriarchat als eine ursprünglich egalitäre, später gynaikokratische und theakratische Gesellschaftsform an, in welcher trotz der ökonomischen, sozialen und religiösen Dominanz der Frauen die Männer nicht unterdrückt waren, sondern wichtige Positionen sowohl in der Gesellschaft z. B. als (sakrale) Könige, Verwaltungsbeamte und Heerführer als auch in der Familie als soziale Väter der Kinder der eigenen mütterlichen Lineage innehaben konnten (Avunkulat). Solcherart definierte Matriarchate werden für die chthonischen Jungsteinzeitgesellschaften bis hin zu den Hochkulturen der Bronzezeit (Sumer, Altägypten, Kreta, Indien) angenommen sowie in Resten bei einigen Stammesgesellschaften in Indien, Indonesien und Afrika. Beide Definitionen von Matriarchat stehen einander heute, zum Schaden der Matriarchatsforschung insgesamt, unverändert gegenüber. Aufgrund der ungeklärten Lage wird der Begriff heute akademischerseits weitgehend vermieden und stattdessen auf die Differenzierungen der Einzelmerkmale (s. o. 1.) zurückgegriffen.
3. Der kulturhistorische Aspekt der Matriarchatsforschung bezieht sich a) auf die Gesellschaftsevolution und b) auf die Religion.
a) Bachofens epochemachende Mutterrechtstheorie, die später von Morgan und Bebel weitergeführt wurde, vertritt die These von der Evolution der Menschheit vom frühesten Zeitalter genereller Promiskuität über das materieverhaftete Stadium der Gynaikokratie hin zum höchsten geistigen Stadium des Patriarchats. Dagegen sah Schmidt das Matriarchat als eine zu überwindende Degenerationsstufe des ursprünglich global herrschenden Urpatriarchats an. Diese beiden Hauptströmungen der traditionellen Matriarchatsforschung wurden bis heute u. a. von der Ethnologie (Briffault, Malinowski), der Sozialtheorie (Engels, Reich), der Psychologie (Freud, Kerenyi, Fromm), der Mythenforschung (Frazer, James, Ranke-Graves) und der Religionswissenschaft (Zinser, Gerlitz) mit widersprüchlichen Ergebnissen weitergeführt. Kaum weniger ideologielastig, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen in der Bewertung, war die ältere feministische Matriarchatsforschung (Gould Davis, Schreier, Sir Galahad), welche im globalen Urmatriarchat das später durch patriarchale Eroberungskriege zerstörte legendäre Goldene Zeitalter der Menschheit sah. Die neueren feministischen Matriarchatstheorien sind, bei ähnlicher Prämissensetzung, deutlich um ein größeres Maß an methodologischer Reflexion bemüht (Gimbutas, Göttner-Abendroth, Stone, Wagner, Weiler), werden aber im Zuge des Geschlechterkampfes ebensooft zur Weltbildkonstruktion der Frauen benutzt, wie dies die patriarchalischen Theorien auf seiten der Männer wurden und werden.
b) Die historischen (z. B. germanisch-keltischen, altorientalischen, griechischen) und die zeitgenössischen (z. B. indischen, stammesreligiösen) Göttin-Mythologien finden heute breite Beachtung in der feministischen Matriarchatsforschung und auf der Ebene der persönlichen Spiritualität regen Zuspruch bei vielen Frauen. Die Große Göttin, die in ihrer dreifachen Gestalt als Jungfrau, Mutter und weise Alte drei zentrale potentielle Lebensstadien der Frau verkörpert, tritt als religiöses Identifikationsobjekt und als Symbol des ewig-weiblichen Prinzips für viele an die Stelle des biblischen Gottes (oder neben ihn) und prägt sowohl die Entstehung neuer Frauenrituale als auch Ansätze einer feministischen Ethik (Daly, Christ, Radford Ruether, Sorge, Starhawk). Daneben steht meistens das männliche Prinzip in Gestalt des Heros oder des Gehörnten Gottes, welches seinerseits im Jahreszyklus das Werden und Vergehen symbolisiert. Ob die derzeitige still fortschreitende Verbreitung der Göttin-Kulte bereits als Anzeichen der Entstehung einer neuen Religion gewertet werden kann, ist noch nicht definitiv zu sagen (Pahnke).

Literatur

Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht, 2 Bde. (1861), Basel 1948 - Robert Briffault, The Mothers, 3 Bde., London 1927- Marija Gimbutas, The Goddesses and Gods of Old Europe, London 1982 - Heide Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, München 1980 - dies., Das Matriarchat I. Geschichte seiner Erforschung, Stuttgart 1988 - Edwin OliverJames, The Cult of the Mother Goddess, London 1959 - Donate Pahnke, Ethik und Geschlecht. Menschenbild und Religion in Patriarchat und Feminismus, Marburg 1991 - dies., Die Neuen Hexen. Spiritualität und Politik, Schlangenbrut 30 (1990) 8-14 - Wilhelm Schmidt, Das Mutterrecht, Wien 1955 - Merlin Stone, Als Gott eine Frau war, München 1988 - Beate Wagner, Zwischen Mythos und Realität. Die Frau in der frühgriechischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1982 - Gerda Weiler, Ich verwerfe im Lande die Kriege. Das verborgene Matriarchat im Alten Testament, Stuttgart 1989 - Hartmut Zinser, Der Mythos des Mutterrechts, Frankfurt a. M. 1981.

Donate Pahnke

(Aus: Wörterbuch der feministischen Theologie. Hg. von Elisabeth Gössmann u.a. Gütersloh: 1991)

Matriarchat-Patriarchat.
1. Begriff. Die abendländische Geschichte und Kultur ist seit ca. viertausend Jahren androzentrisch geprägt. Daß es sich hierbei nicht um ein Naturgesetz handelt, sondern daß es davor - bei einigen Völkern sind Spuren bis heute erhalten - andere Formen gegeben hat, wird erst seit dem 19. Jh. systemat. erforscht. Dabei ist der Begriff M., wie er analog zu P. gebildet worden ist, ein in sich mißverständlicher Terminus. Von der griech. Bedeutung arche her, die sowohl "Beginn", "Ursprung" wie auch "Macht", "Vorherrschaft" ausdrückt, geht es dabei um Rollen- und Machtverteilung. Der Begriff M. ist damit im Sinne eines Kampfes der Geschlechter vorgeprägt, wobei im M. das weibliche, im P. das männliche
die Oberhand hätte.
2. Bachofen. Grundlegend für die Auslösung der neueren Diskussion ist "Das Mutterrecht" von J.J. Bachofen (1861). Der Verfasser geht aus von einem romantisch verstandenen Muttertum, woraus dann in politisch-gesellschaftlicher Ausweitung gynaikokratische Strukturen abgeleitet werden. Im Mutterrecht sieht er "das ursprüngliche Lebensgesetz", das nicht einem bestimmten Volke, sondern einer "Kulturstufe" angehörte (Vorrede). Das Weib ist früher als der Mann, "das Weib ist das Gegebene, der Mann das aus ihr erst Gewordene ... auf dem Gebiet des physischen Lebens steht also das männliche Prinzip an zweiter Stelle, es ist dem weiblichen untergeordnet. Darin hat die Gynaikokratie ihr Vorbild und ihre Begründung" (124f.). Kennzeichen dieser mutterrechtlichen Strukturen waren für Bachofen der Vorzug der Nacht/des Dunkels, der Auszeichnung des Mondes vor der Sonne, der Erde vor dem Meer im kosmischen Bereich, der Vorzug der Schwester vor dem Bruder, der jüngsten Geburt vor der ersten im Sippenbereich, die besondere Anlage der Frau für die Frömmigkeit im rel. Bereich. Die Untersuchung alter Völker beginnt mit den Lykiern (Herodot), es folgten Kreta u. a. Als hist. Quellen zieht Bachofen auch Mythen heran. Letztlich ist seine Untersuchung jedoch nicht hist., sondern ideologisch, Hintergrund ein philos. Platonismus, für den die Übermacht des männlichen (= geistigen) Prinzips feststeht. Das weibliche, mutterrechtliche Stadium dient dabei nur als Kontrastmittel zur Heraushebung des höheren, des männlichen Zeitalters. So ist für Bachofen die "gynaikokratische Weltperiode ... die Poesie der Geschichte" (17). Die Entwicklung geht von unten nach oben, von Stoff zu Geist, von Mutterrecht zu Vaterrecht, wobei das röm. Recht den Höhepunkt bildet. Den idealen Zustand der Geschlechter beschreibt Bachofen am Ende des Abschnitts über Kreta: Wie der Mond der Sonne, so folgt Ariadne dem Sonnenhelden Theseus. "Von des Mannes höherer Natur geblendet ..., sehnt sich das Weib nach Einigung mit ihm und findet in der Unterordnung unter den Geliebten ihre höchste Befriedigung. Damit erst ist das Verhältnis der Geschlechter mit dem höchsten kosmischen Gesetz in Übereinstimmung gebracht" (137). Trotz dieser männlichen Selbstrechtfertigung gebührt Bachofen das Verdienst, eine Diskussion angeregt zu haben, die in mutterrechtlichen Strukturen nicht nur gelegentliche Ausnahmen, sondern eine frühere Kulturstufe sah. Hier hat die Forschung weitergearbeitet und neues Material zutage gefördert, das weiter zurückreicht als das auf griech.-röm. Quellen beschränkte Bachofens.
3. Feministische M.s-Forschung. Es gab nicht wenige Jh.e weiblicher Kulur vor der männlichen, sondern beim M. handelt es sich um einen Zeitraum, der um ein Vielfaches größer ist als die als normativ angesehenen patriarchalischen Strukturen. Feministische M.s-Forschung arbeitet nicht nur mit hist. Quellen im strengen Sinn, sondern auch mit Mythen, da diese häufig Zustände auf der gesellschaftlichen Ebene widerspiegeln oder bewahren; schriftliche Quellen werden mit zunehmendem zeitlichem Abstand seltener. Geographisch stammt das meiste Material aus dem Gebiet des sog. fruchtbaren Halbmondes von Indien über Mesopotamien und Ägypten zum gesamten Mittelmeerraum. H. Göttner-Abendroth unterscheidet ein M. auf ökonomischer, auf sozialer und rel. Ebene. Nur wo alle Kennzeichen vorkommen, kann von einer matriarchalischen Gesellschaft gesprochen werden (Sumer, Altpersien, Altägypten und Kreta). Die Ökonomie war geprägt durch Garten- oder Ackerbau, der Boden gemeinschaftlicher Besitz der (weiblich geprägten) Sippe. Die Familienstruktur war mutterrechtlich durch Matrilinearität und Matrilokalität bestimmt; Blutsverwandtschaft gab es nur über die Mutter, da Vaterschaft noch unbekannt war. Die staatliche Ebene war durch Gynaikokratie geregelt. Erd-, später Mondgöttinnen bestimmten das rel. Leben, der rituelle Nachvollzug (Feste) war zyklisch, im Mittelpunkt standen Hochzeit, Geburt und Tod (Wiedergeburt). Alle matriarchalischen Religionen sind jahreszeitlich durch den Zyklus der Vegetation bestimmt. Auf der primitiven Stufe zunächst eine Erdmutterreligion (vgl. die verbreiteten weiblich-mütterlichen Figuren und Symbole), kam in der entwickelten Form ein astrales Element dazu mit dem Mond (nicht der Sonne) im Zentrum. Typisch für die matriarchalischen Religionen ist die Dreizahl, anschaulich an der veränderlichen Form der Mondsichel und am Vollmond ablesbar, wie es sich an zahlreichen Darstellungen und Symbolen (z. B. Doppelaxt in Kreta, Höhlenzeichnungen) ablesen läßt. Die dreifaltige Mondgöttin als junges Mädchen, weise Frau und alte Frau (oder: Jungfrau - Mutter - Greisin) erscheint in allen frühen Göttinnen der matriarchalischen Hochkulturen als "Himmelskönigin" (Innana in Sumer, lstar-Astarte in Mesopotamien/Babylonien, Isis-Hathor in Ägypten).
Der Übergang vom M. zum P. ist heftig umstritten. Sicher gibt es dafür nicht nur eine Ursache, sondern es handelt sich um einen jahrhundertelangen Prozeß. Eine der wichtigsten Ursachen war wohl die Entdeckung der Vaterschaft, andere Theorien sehen das Aufkommen des P. im Zusammenhang mit dein Privateigentum (Bornemann) oder, mit Jagd und Krieg im Gegensatz zu den friedlichen, unkriegerischen matriarchalischen Ordnungen.
4. Altes Testament. So patriarchalisch wie die profane und die Philosophiegeschichte, die im allg. mit den Griechen und Römern begonnen wird, ist auch der rel.-theol. Bereich. Dies gilt lies. für die atl.-jüd. Kultur, die die westl.christl. Wertvorstellungen mindestens ebenso geprägt hat wie die griech.-röm. Insbesondere die Bibel des AT, auf die sich die drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam berufen, ist in einer patriarchalischen Gesellschaft entstanden. Die Bücher des AT, die in einem Zeitraum von ca. 1000 Jahren geschrieben wurden, sind jedoch differenziert zu betrachten. Gerade in den älteren Teilen des AT sind noch vielerlei Spuren einer früheren Ordnung erkennbar. Die Eheformen, die in der Endredaktion des AT überaus patriarchalisch sind (ein Mann kann mehrere Frauen besitzen, der Stamm, die Blutsverwandtschaft regelt sich ausschließlich über den Mann, nur der Mann kann seine Frau entlassen, die Frau hat kein Scheidungsrecht usw,), zeigen in den ältesten Texten eine erstaunliche Variabilität. So gibt es mancherlei Spuren der sog. Beena-(Besuchs-)Ehe, d. h. die Frau bleibt in ihrer Sippe wohnen, der Mann kommt lediglich zu Besuch (vgl. Gen 3 1; Ri 8 f.; 14-16). Geschlechtsverkehr und selbst Ehe sind noch in der Königszeit zwischen Geschwistern möglich, sofern sie nur verschiedene Mütter haben. In dem begründenden Satz des jahwistischen Schöpfungsberichts: "Darum verläßt der Mann Vater und Mutter - - ." (Gen 2,24), könnte ein früheres matriarchalisches Stadium erhalten sein. Bei der Namengebung der Kinder, die überwiegend durch die Mutter erfolgt, sind bis in späteste Zeit alte Strukturen sichtbar, ebenso in der Tatsache ' daß einer als Jude immer nur über die Mutter definiert wird, der Vater zählt dabei nicht. in der vorexilischen Zeit spielten Frauen auch soziologisch und theol. eine überaus wichtige Rolle, wie dies noch in der Entwicklung mancher Texte sichtbar zu machen ist, z. B. Mirjam neben Mose, Debora neben Josua u.a. Hervorzuheben ist auch das mit einem eigenen Titel versehene Amt der Königinmutter (gbirah), dessen Wurzeln in andere altoriental. Kulturen zurückreichen. Wenn auch die patriarchalische Grundstruktur der atl. Schriften nicht geleugnet werden kann, vor allem nicht eine mehrfache androzentrische Überarbeitung und Endredaktion, ist doch davor zu warnen, das AT vorschnell als rein patriarchalisches Produkt abzuwerten.
5. Gottesbild. Ist die Vorherrschaft der männlichen über die weiblichen Strukturen nur äußerlich, ist ihre Aufbebung verhältnismäßig leicht. Problematisch wird es, wenn die männliche Vorherrschaft so verinnerlicht wird, daß das Weibliche selbst die eigenen Werte verleugnet und nur noch das Männliche als Bild für das Göttlich-Transzendente geeignet erscheint. So spitzt sich alles auf die Frage zu, wie weit patriarchalische Strukturen die christl.-jüd. (und islam.) Gottesvorstellung so beeinflussen, daß Gott nur mehr in männlicher Terminologie (Herr, Richter, Held, Retter, Vater usw.) vorstellbar ist. In Israel hat sich ein theoretischer Monotheismus androzentrischer Prägung bekanntlich erst sehr spät, im Exil (6. Jh. v. Chr.), durchgesetzt, und zwar offenbar gerade gegen weibliche Gottheiten, die im Alten Orient sehr einflußreich waren. Noch Jeremia kämpft gegen den Kult der "Himmelskönigin", die die Jerusalemer Frauen (und Männer) offenbar für wirkmächtiger halten als den (männlich geprägten) Jahwe der Propheten (vgl. Jer 7; 44). - Je androzentrischer das Gottesbild wird, desto starrer und spekulativer wird es. In der christl. Lehre von der Dreifaltigkeit läßt sich fast ein Kampf zwischen der matriarchalischen Vorliebe für die Dreizahl und dem für das P. typischen Dualismus finden: Die dritte Person der Dreifaltigkeit, Gottes lebenspendende Schöpfer- und Liebeskraft, die in der Symbolik (Taube!) und in der Dichtung wie im AT (ruah) fast immer weiblich ist, ist in Gefahr, von der männlich geprägten Zweiheit VaterSohn verdrängt bzw. vereinnahmt zu werden. Je androzentrischer das Gottesbild ist, desto weniger kann es anfangen mit dem Hl. Geist, jenem weiblichen Element in der Trinität, das in der christl. Theologie (und Praxis!) regelmäßig zu kurz kommt.
Da der Mensch Geschichte nicht rückgängig machen kann ist eine Rückkehr ins M. oder zu den aiten Göttinnen eine Illusion. Die Zukunft kann nur durch Überwindung patriarchalischer Strukturen auf gesellschaftlicher Ebene und im theol. Symbolsystem bestehen, so daß es zu einem integrierten Gottesbild kommt, wo es nicht mehr um Kampf des einen gegen das andere Geschlecht geht, sondern um Ganzheit und Partnerschaft.

Lit. J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Frankfurt 1980; E. Bornemann, Das P. Frankfurt 1983; M. Daly, Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. München 1980; F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin 6. Aufl. 1953; H. Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros. München 1982; M E. P König, Die Frau im Kult der Eiszeit; R. Fester u.a. Weib und Macht. Frankfurt 1982,107-158; E. Neumann, Die große Mutter. Freiburg 1981; H. Schüngel-Straumann, Gott als Mutter in Hosea 11: ThQ 166 (1986) 119-134; G. Weiler, Ich verwerfe im Lande die Kriege. München 1984; U. Winter, Frau und Göttin. Göttingen 1983.

H. Schüngel-Straumann

(Aus: Lexikon der Religionen. Phänomene, Geschichte, Ideen. Freiburg: 1987)


Homepage - Theologie - Geschichte - Urgeschichte - VHS-Kurse - Lokalpolitik - Links